Otto Jaennis Schäfer

Entfaltung aus der Geometrie

 

Kunst und Naturwissenschaft werden zur Zeit als gegensätzlich empfunden. Doch im Drang nach Erkenntnis und dem Wunsch nach Ausdruck haben sie denselben Unrsprung. Das abstrakte Denken sucht die Prinzipien hinter den Erscheinungen – der Naturwissenschaftler eher in der Formel, der Künstler im Bildhaften.

In früheren Epochen gabe es keine Fragmentierungen in Kunst, Forschung, Religion. Insbesondere die Mathematik galt im eigentlichen Sinne als Philosophie. In ihr finden Denker wie Euklid, Pythagoras und Archimedes bis hin zu Leonardo da Vinci die transzendenten Grundstrukturen aller Erscheinungen formuliert. Kepler nannte die Mathematik gar das Urbild der Schönheit.

In unserer technischen Welt ist die Anwendung der Mathematik und Geometrie ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens. Als Realisierung geistiger Abstraktion sind Maschinen und Bauten Verkörperung dieser Gesetzmäßigkeiten. Doch über die vielfältigen praktischen Funktionen hinaus hat insbesondere die Geometrie einen ausgesprochen tranzendentalen Charakter als sinnlich-formale Manifestation des geistigen Ursprungs der Schöpfung. In den geometrischen Figuren sind omnipräsente formale Strukturen des Kosmos konkretisiert.

In der heutigen Zivilisation ist dieser Aspekt kaum mehr bewusst – in allen vergangenen Hochkulturen war die spirituelle Dimension selbstverständliche Erfahrung. Viele dieser Kulturen maßen bestimmten Aspekten der Geometrie magischen Gehalt und Einfluss zu. Grundfiguren wie Kreis, Quadrat, Dreieck, Spirale weisen eine hohe emotionale Ladung auf. Hier ist eine nonverbale Weltsprache offensichtlich, die in den Bildzeugnissen aller bedeutenden Zivilisationen die Dimension des Numinosen widerspiegelt. Daher spricht man hierbei auch von »Heiliger Geometrie«. Angesichts eindrucksvoller Beispiele dieses religiösen Kontextes, wie wir sie in Schöpfungen wie Stonehenge, Pyramiden, Kathedralen erleben, spüren wir jenen transzendentalen Bezug.

Unsere Abstraktionen Punkt, Linie, Fläche, Raum und geometrische Gestalten sind also keineswegs rein theoretische, beliebige Konstrukte, sondern sie drücken die unseren Sinnen zugängliche Beschaffenheit des Universums aus. Die »Heilige Geometrie« erkennt überall wiederkehrende Prinzipien im Kleinen wie Großen, in der Ordnung des Sonnensystems ebenso wie in den Proportionen des menschlichen Körpers.

Nach unserem modernen physikalischen Verständnis haben wir in einem holistischen Universum einen Tanz von Frequenzen und Rhythmen vor Augen, der entsprechend der Wirkung der »Feld-Strukturen« die Schöpfungsenergie als geometrisches Muster in materieller Form sichtbar werden lässt. Staunend nehmen wir in den vielfältigen Erscheinungsformen des Lebens universelle Gestalten wahr, von der Spiralform riesiger entfernter Galaxien bis zur Anmut eines winzigen Schneekristalls. Diese mathematischen Strukturen sind in den Formen der Pflanzen und Tiere lebendig als Maß und Proportion, leuchten geheimnisvoll am Sternenhimmel und bezaubern uns als Klang im Wunder des Musikerlebens.

Die überirdische Quintessenz der Schöpfung berührt uns als »Schönheit« zutiefst – jenseits aller Wandlungen des Zeitgeists und jeweiliger kulturspezifischer Überzeugungen.

Über die elementaren geometrischen Figuren wie Kreis, Ellipse, Parabel und deren Raumformen hinaus ist in der unendlichen Fülle vegetativ-morphologischer Formen vor allem die S-förmig gebogene Linie, die Sinus-Kurve präsent. Die Wellenlinie ist uns vertraut als optische Chiffre für Schall, für Strahlung und Licht. Und die moderne Physik belegt, dass schließlich der ganze Kosmos in »Schwingung« existiert, dass es »Materie« im üblichen Sinne gar nicht gibt. Alles, was ist, ist ein myriadenfach ineinander verwobenes Vibrationsmuster.

In diesem großen Zusammenhang bietet uns die Schwingungslinie eine tiefe Symbolik für unser Weltverständnis: Anschwellen und Abklingen, Pulsieren, Ebbe und Flut, Ein- und Ausatmen, Oben und Unten, Positiv und Negativ, Yin und Yang – in der Sinuslinie erscheint das der ganzen Schöpfung innenwohnende Prinzip der Komplementarität der Gegensätze.

Man könnte in der Sinuslinie geradezu das Prinzip des vegetativen Lebens in die Welt treten sehen. In der Morphologie der Formen des Lebendigen kann sie als verbindendes und treibendes Motiv der Entfaltung aus den geometrischen Grundformen, als Symbol des Wachstums und der Fortentwicklung angesehen werden. In dieser seligen Mathematik wird immanente Sinnlicheit sichtbar.

Ist schon in schlichten Grundgestalten wie Kugel, Kubus, Zylinder, Kegel usw. eine ästhetische Faszination verkörpert, die sie zum Thema vielfältiger künstlerischer Auseinandersetzung gemacht hat, so habe ich mich besonders den »geschwungenen« Formen gewidmet, die Anmutungen an vegetative Naturformen wie Ei, Same, Frucht oder Blatt beinhalten.

Die Sinuskurve ist insbesondere auch ein wesentliches Kriterium, ob wir eine Form als »erotisch« empfinden: Der Anklang von Eros entsteht durch eine ganz bestimmte Proportion in einem Spannungsfeld von sich wechselweise bedingenden Gegensätzen – die Grenzen einer Wölbung, das Harte gegen das Weiche, Abstand und Nähe, Verlauf und Wendung. Diese gegenseitige Bedingtheit und Komplementariät ist die formale Erscheinungsform der Grundenergie der Natur, die wir Eros nennen und die allem Leben innewohnt.